Was ist Belcanto?
Belcanto (ital: bel canto) ist ein zentraler Begriff in der klassischen Gesangskunst, der jedoch zuweilen unspezifisch und inflationär verwendet wird. Typischerweise kennt man drei unterschiedliche Definitionen des Begriffs. So bedeutet der aus der alt-italienischen Gesangstradition stammende Terminus zunächst einfach nur „schöner Gesang“. Entsprechend der Wortbedeutung sollte also jeder Stimmklang in der Tradition des Belcanto schön sein. Musikhistorisch beschreibt der Begriff Belcanto insbesondere die Gesangskunst der großen Kastraten-Sänger im Barock während Musiker heutzutage primär die italienische Vokaltradition zwischen etwa 1800 und 1850 – also den Operngesang in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Interpretation von Vokalwerken der berühmten Komponisten dieser Epoche: Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti aber auch von Frühwerken Giuseppe Verdis – mit dem Begriff verbinden.
Ganz deutlich ist der Einfluß der barocken Vokalkunst (canto fiorito) mit ausladenden Koloraturen, Verzierungen – den wesentlichen Manieren (Triller, Mordent, Vorschlag, Doppelschlag, etc.) und willkürlichen Veränderungen – sowie Kadenzen auf die Opernkompositionen des primo ottocento zu erkennen. Ähnlich wie im Barock, wo sich die Rolle der Sängerin oder des Sängers nicht einzig auf die genaue Ausführung der Partitur beschränkte, erwartete man von den Interpretinnen und Interpreten auch im frühen 19. Jahrhundert kreative improvisatorische, ja fast kompositorische Fertigkeiten bei der Ausgestaltung von Vokalwerken aus dieser Zeit.
Belcanto steht also zum einen für einen ganz bestimmten ornamentalen musikalischen Stil, der umfassende Kenntnisse über musikalische Strukturen und Verzierungen voraussetzt, gleichermaßen aber auch für eine, durch bestimmte Charakteristika betreffend die Stimmbehandlung, Stimmführung und Phrasierung geprägte Klangästhetik und nicht zuletzt auch für essentielle gesangstechnische Prinzipien wie Appoggio (Atemführung, Stütze), Chiaroscuro (hell-dunkel, Resonanzstrategie), Portamento, Legato, Messa di voce, Vibrato, Register- und Vokalausgleich, Intonation, Tonansatz, Artikulation, etc.
Als künstlerischer und wissenschaftlicher Experte für die Aufführungspraxis, die Gesangstechniken und die Gesangsästhetik der italienischen Belcanto Tradition habe ich in den letzten Jahren Studien und Artikel zum Thema in renommierten Fachzeitschriften (Journal of Voice: Investigating the Voce Faringea: Physiological and Acoustic Characteristics of the Bel Canto Tenor’s Forgotten Singing Practice, DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.jvoice.2016.06.010; Vox Humana, 12,2, Juni 2016, 34-42.: Die vergessene Kunst der Belcanto-Tenöre) veröffentlicht.
Mein besonderes Anliegen ist es, die wesentlichen gesangstechnischen und ästhetischen Prinzipien der Gesangstradition des Belcanto in künstlerisch-pädagogischer Weise an meine Studierenden weiterzugeben – dabei aber mit der Berücksichtigung sängerischer Anforderungen im heutigen Opern- und Konzertbetrieb stets auch eine Brücke ins 21. Jahrhundert zu schlagen.