Gesangstechnische Konzeption meines Unterrichts
Grundidee der stimmbildnerischen Konzeption meines Unterrichts ist das Ökonomisieren und Optimieren physiologischer und funktionaler Prozesse beim Singen. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen Stimmphysiologie und Akustik als auch Psychologie, Pädagogik und Didaktik bilden dabei eine wichtige Grundlage für die Analyse und Optimierung von Lern- und Übungsprozessen. Im Sinne eines systematischen Stimmaufbaus stehen die vier Funktionskreise: Haltung, Atmung, Phonation und Resonation/ Artikulation dazu im Fokus meiner stimmbildnerischen Arbeit. Eine stetige Wechselwirkung zwischen den einzelnen Funktionskreisen kann dabei vorausgesetzt werden (resonatorische Veränderungen im Vokaltrakt haben etwa auch direkte Auswirkungen auf die Glottisfunktion und die Atem-Balance).
Die Körperhaltung
Schon Pier Francesco Tosi (Opinioni de’ cantori antichi, e moderni o sieno osservazioni sopra il canto figurato, Bologna 1723) und Giambattista Mancini (Pensieri e riflessioni pratiche sopra il canto figurato, Wien 1774) beschrieben im 18. Jahrhundert eine aufrechte, noble Haltung als Grundlage eines eleganten Gesangstons. Tatsächlich wird die Suche nach einer dynamischen Balance zwischen Spannung und Entspannung (Eutonus) – nicht nur beim Singen – ausschließlich bei entsprechend aufgerichteter (gestreckter) Wirbelsäule erfolgreich sein. Diese aufrechte Körperhaltung ist bei gleichzeitiger relativer Entspannung von Knöchel-, Knie- und Hüftgelenken sowie der Schultern und ganz besonders des Kiefergelenks Grundlage für entspanntes Atmen und in weiterer Folge für das Etablieren der Atem-Balance (Atem-Stimm-Kopplung, appoggio in petto) beim Singen. Ein zentrierter Körperschwerpunkt begünstigt dazu die Arbeit der Zwischenrippenmuskulatur und des Zwerchfells.
Eine durch jene aufrechte Haltung bewirkte Längs-Dehnung im Bereich des Nackens (Halswirbelsäule) führt unter anderem auch zu einer für die Stimmproduktion optimierten Positionierung des Kehlkopfes und begünstigt den Ausgleich zwischen Kehlhebern und Kehlsenkern. So kann der, bei vielen jungen Sängerinnen und Sängern auftretenden kontraproduktiven Tendenz, bei steigender Tonhöhe den Nacken zu verkürzen, das Kinn nach vorne zu verschieben und den Kehlkopf steigen zu lassen (Verkleinerung des Ansatzrohrs und der faukalen Weite) entgegengewirkt werden.
Die aufrechte Haltung soll keinesfalls als statisches Festhalten einer bestimmten Körpereinstellung sondern vielmehr als ein flexibler und dynamischer Vorgang verstanden werden.
Die Atmung
Zentrale Aufgabe der Atemtechnik beim Singen ist die feindifferenzierte Regelung und ständige Anpassung der subglottischen Luftdruckverhältnisse an die jeweiligen phonatorischen Erfordernisse (abhängig von Tonhöhe, Register und Dynamik) und damit das Herstellen der sogenannten Atem-Stimm-Kopplung (appoggio in petto, Stütze, breath management, support). Das feinmotorische Einstellen einer solchen Atem-Balance begünstigt vor allem auch die Kehltätigkeit und ist Voraussetzung für eine optimierte Atemstromrate (flow phonation).
Bezüglich der Atemtechnik beim Singen verwende ich persönlich im Gesangsunterricht fast ausschließlich den italienischen Terminus appoggio, da dieser Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung bereits die Gesamtheit der physiologischen und funktionalen Vorgänge zur Koordination zwischen Atmung, Klangerzeugung und Resonation (appoggio in petto, appoggio in testa) beinhaltet. In italienischen Gesangstraktaten aus dem 17. und 18. Jahrhundert wurde das Atemmanagement beim Singen noch als „forza naturale del petto“ bezeichnet. Gemeint war damit das dynamische und feinmotorische Dosieren der Atemluft bei der Klangproduktion. Die Technik des appoggio beschreibt durch das Beibehalten einer Einatmungstendenz (inhalare la voce) während der Exspiration (beim Singen) einen antagonistischen Balance-Akt zwischen der Ein- und Ausatmungsmuskulatur. Unter diesen Voraussetzungen hat sich die Costo-Abdominal-Atmung (Zwerchfell-Flanken-Atmung) als besonders günstig und ökonomisch für den Einsatz im Gesang bewährt.
Die Phonation
Das Kapitel der Phonation umfasst prinzipiell sämtliche Einstellungsmöglichkeiten der inneren und äußeren Kehlmuskulatur zum Bereitstellen der, für die Phonation unterschiedlicher Grundtonfrequenzen entsprechenden Stimmlippenschwungmasse und des jeweiligen Grades an Stimmlippenadduktion. Von besonderer Bedeutung zur Regulierung der Stimmlippenmasse und damit auch der Phonationsfrequenz ist das feindifferenzierte Zusammenspiel des M. cricothyroideus (CT) und des M. thyroarytaenoideus (TA).
Diverse gesangsphysiologische Studien belegen einen direkten Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Stimmregistern und bestimmten, von der jeweiligen Masse abhängigen Schwingungsmustern der Stimmlippen. Das Ausbilden sowie der Ausgleich der Stimmregister stellt dazu eine der wichtigsten Aufgaben im Aufbauprozess einer Gesangsstimme dar. Als Ziel sollte eine in allen Lagen optimierte Atemstromrate (flow phonation) bei möglichst geringen subglottischen Luftdruckverhältnissen, tendenziell geringer Stimmlippenmasse und adäquater glottischer Adduktion (Aktivität der M. interarytaenoidei und M. cricoarytaenoideus lateralis) angestrebt werden.
Insbesondere soll aber auch das Entwickeln kinästhetischer Wahrnehmung unterschiedlicher, von der jeweiligen Registereinstellung abhängiger Vibrationserscheinungen beim Singen im Gesangsunterricht unterstützt werden.
Die Resonation/Artikulation
Im Ansatzrohr wird der vom Kehlapparat erzeugte Primärschall in bedeutendem Maße modifiziert. Der Vokaltrakt wirkt dabei wie ein Filter, der bestimmte Frequenzen der Obertonreihe des Primärschalls verstärkt, andere wiederum dämpft. So werden Teiltöne, die im Frequenzbandbereich der, durch die Größe und Form des Ansatzrohrs (hohe oder tiefe Kehlkopfposition, viel oder wenig faukale Weite) und durch den jeweiligen Vokal (unterschiedliche Frequenzbereiche des ersten und zweiten Formanten) bestimmten Formanten liegen, resonatorisch begünstigt.
Das feine Abstimmen der Vokalfarbe und damit das Verändern der Frequenzen der beiden tiefsten Formanten (F1 und F2), um sie mit den Frequenzbereichen einzelner Teiltöne der Obertonreihe zur Überlagerung zu bringen, führt automatisch zu einer Steigerung des Schalldruckpegels und damit zur Verbesserung der stimmlichen Tragfähigkeit (formant-tuning). Typisch ist etwa die Strategie der Verstärkung des 2. Formanten durch den zweiten, dritten oder vierten Teilton (abhängig von der Grundtonfrequenz) bei Männerstimmen und jene der Überlagerung des 1. Formanten mit dem Grundton bei Frauen, die im Kopfregister (whoop timbre) singen.
Diese Vorgänge (vowl modification) sind auch Grundlage des Vokalausgleichs. Ziel ist dabei ein Angleichen des Klanggepräges heller und dunkler Vokale in unterschiedlichen Registern und Tonlagen. Gemäß dem Ideal des Belcanto sollte dabei jeder Vokal zugleich über helle und dunkle Klangeigenschaften verfügen (chiaroscuro). So wird auch die registerdeterminierende Tendenz der Vokale (z.B.: „A“ tendiert zum Modal/Brustregister, „U“ zum Kopfregister/Falsett) relativiert und der Registerausgleich erleichtert. Erreicht wird dies vor allem durch das Etablieren einer gleichmäßigen Resonanzweite (faukale Weite, open throat, gola aperta) im Ansatzrohr. Diese geht dabei typischerweise auch mit einer lockeren und flexiblen Tiefstellung des Kehlapparats einher und führt dazu durch die Aktivierung des CT zu einer moderaten Reduktion der Stimmlippenschwungmasse. Töne in hohen Lagen können auf diese Weise wesentlich leichter, mit geringerer Druckentfaltung und aus diesem Grund deutlich ökonomischer hervorgebracht werden. Resonatorische Einstellungen stehen somit in direkter Wechselwirkung mit den Spannmechanismen im Kehlapparat und haben so auch Einfluß auf die Stimmregistrierung. Etwas vereinfacht kann abgeleitet werden, dass durch die faukale Weite eine Nasenrachenraum-dominante Resonanzentwicklung etabliert wird, es bei Fehlen der faukalen Weite jedoch zu einer Mundraum-dominanten Resonanzentwicklung kommt. Nur erstere schafft gute Voraussetzungen für das Gelingen von Vokal- und Registerausgleich. Die faukale Weite kann somit als resonatorische und artikulatorische Grundeinstellung im klassischen westlichen Kunstgesang angesehen werden.
Besondere Aufmerksamkeit im Aufbau der Gesangsstimme sollte vor allem auch den kinästhetisch spürbaren Resonanzerscheinungen in verschiedenen Körperregionen geschenkt werden, da diese für Sängerinnen und Sänger eine wichtige Orientierung und einen Kontrollmechanismus bezüglich der Resonanzentfaltung beim Singen darstellen. Vor allem intensive, durch kräftige hochfrequente Teiltöne ausgelöste Vibrationsempfindungen im Bereich des Kopfes (appoggio in testa, Stimmsitz, Stimmansatz) führen oft schon zu einer deutlichen Ökonomisierung der Klangproduktion. Der Gesangston entfaltet damit bereits genügend resonatorische Kraft und die Sängerin, bzw. der Sänger verspürt kein Bedürfnis, Kompensationsmechanismen (mehr Atem- und Stimmdruck) einzuleiten. Ein optimales Verhältnis zwischen Resonanz und Impedanz (Widerstand, semi-occluded vocal tract configuration: schmal und vertikal im Bereich der Lippen, Weite im Bereich des Rachens und Schlundes) ist dabei zu entwickeln.
Bestimmte resonatorische Phänomene haben zudem auch Auswirkungen auf die Register-Wahrnehmung beim Singen und können helfen, spezifische Probleme der Stimmregistrierung zu verbessern. Auch die wahrnehmbaren resonatorischen Veränderungen im Bereich des Passaggios bei Männerstimmen (girare, decken, cover) sind u.a. auf solche Phänomene zurückzuführen. So stellt sich bei steigender Phonationsfrequenz und gleichbleibender Einstellung des Ansatzrohres automatisch eine Veränderung des Stimmtimbres ein, sobald der zweite Teilton (H2) den Frequenzbereich des ersten Formanten (F1) passiert hat. Aber auch bei Frauenstimmen ist eine Veränderung des Stimmtimbres bemerkbar, sobald im Kopfregister der erste Formant (F1) mit dem Grundton (H1) in Abstimmung gebracht wird (whoop timbre) und bei steigender Tonhöhe ebenfalls entsprechend erhöht wird (formant 1 tracking).
Ein Qualitätsmerkmal der ausgebildeten Gesangsstimme ist das Vorhandensein des sogenannten Sängerformant-Clusters und die Entwicklung dieses akustischen Phänomens stellt eine wichtige Herausforderung in der Gesangsausbildung dar. Durch eine Annäherung der Formanten F3, F4 und F5 im Bereich zwischen ca. 2,5 KHz und 3,5 KHz kommt es zu einer deutlichen Verstärkung des Stimmschalldruckpegels. Der Klang gewinnt dabei – ohne weitere Druckentfaltung seitens der Atmung oder phonatorischer Mechanismen – an Brillanz, Intensität, metallischer Kraft und Tragfähigkeit. Das Bilden eines sogenannten aryepiglottic sphincters (Annäherung der Epiglottis und der Stellknorpel) bei gleichzeitiger tiefer Positionierung des Kehlkopfes und faukaler Weite begünstigt das Entwickeln des Sängerformant-Clusters. Die mit dem Auftreten des Sängerformant-Clusters einhergehenden Vibrationsempfindungen in den oberen und vorderen Bereichen des Kopfes werden oft auch als „in die Maske singen“ beschrieben.
Einen wichtigen Teil des Themenkomplexes der Resonation und Artikulation stellt auch die Vokal- und Konsonantenbildung dar. Unter Berücksichtigung der resonatorischen Erfordernisse (Vokalausgleich) soll die korrekte Artikulation diverser Vokale und Konsonanten (Form des Vokaltrakts, Zungenpositionen) im Kunstgesang erlernt werden.
Eine für ausgebildete Stimmen typische Erscheinung ist das Stimm-Vibrato. Sein Entstehen ist wissenschaftlich bislang noch nicht hundertprozentig geklärt doch stützen wissenschaftliche Erkenntnisse die Vermutung, dass sein Entstehen auf eine neuromuskuläre Erregung des Kehlapparats zurückzuführen ist. Dabei korrelieren respiratorische Effekte, insbesondere aber auch Schwankungen der CT-Spannung sowie das Schwingungsverhalten der gesamten Kehlstruktur maßgeblich mit dem Auftreten des Vibratos. Belegt ist auch, dass die Entwicklung und Kultivierung des Vibratos (eine Oszillationsrate von 5,5 bis 7,5 Schwingungen pro Sekunde wird im klassischen Gesang westlicher Prägung als Ideal angesehen) mit einer Optimierung von Atemtechnik, Klangerzeugung und Resonanzentwicklung einhergeht.